Archiv der Kategorie: Graphisches Log

Ich habe sehr viel Zeit.

Graphisches Log im öffentlichen Raum. Schöppingen, Westf.

2007

“Schöppingen. Passanten auf dem Weg zum Einkauf oder bei einem gemütlichen Spaziergang können am kleinen Trafoturm gegenüber dem Künstlerdorf Schöppingen seit Kurzem ein Kunstprojekt verfolgen. Silvia Wienefoet, seit einiger Zeit Stipendiatin im Künstlerdorf, hat die schmale und hohe Straßenfassade des ehemaligen Stromhäuschens in eine Art Arbeitstagebuch verwandelt. Auf der Turmwand tauchen in regelmäßigen Abständen Text-Ausschnitte einer Recherche im Internet auf, das Thema ist „Warten“. Die Wand erinnert an ein überdimensionales Blatt Papier oder auch an eine gerade geöffnete Bildschirmseite aus dem Computer. Die jeweils neuesten Beiträge stehen gut sichtbar in der obersten Ebene, die Beiträge der vorhergehenden Tage verblassen allmählich durch die immer neuen übermalungen. So lässt die Künstlerin eine Art Arbeitstagebuch grafischer Art im öffentlichen Raum entstehen, für jeden sichtbar. Damit erinnert das Projekt auch an die Form eines sogenannten Blogs, jene digitalen Journale im Internet, die seit einiger Zeit zu einer sehr beliebten Form der öffentlichen Kommunikation geworden sind.” Allerdings sind die Textfragmente auf dem Turm in Schöppingen Teil einer realen, alltäglichen öffentlichkeit – nicht einer digitalen Welt. Die Buchstaben der Schriften bestehen aus tatsächlichen Farben in verschiedenen Pigmentdichten und unterschiedlichen Größen auf einem fassbaren Hintergrund. Gleichzeitig ist das Kunstprojekt von Silvia Wienefoet in Laufzeit und Dauer von den Bedingungen des realen Materials der Farben abhängig: Der erste Textbeitrag ist in dichtem Schwarz aufgetragen worden, jeder folgende Eintrag ist dann eine Nuance heller. Die Arbeit ist schließlich beendet, wenn Weiß auf Weiß steht.
Heinz Kock, Stiftung Künstlerdorf Schöppingen erschienen in: Westfälische Nachrichten 22.08.2007

GRAPHISCHE LOGS

Analoges Publikmachen in der Urform
Wenn man früher seine Meinung öffentlich kund tun wollte, hat man das Gespräch gesucht, Leserbriefe geschrieben und größer aufgezogen, Plakate oder sogar Flugblätter gedruckt. Wollte man seine ureigensten, persönlichen Gedanken zu einem bestimmten Thema oder einfach nur zum Leben selbst festhalten, hat man Tagebuch geführt. Dieses wurde sorgsam vor den Augen anderer geschützt und aufbewahrt. Es wäre undenkbar gewesen, dass jemand anderes die eigenen Einträge liest.

Digitale Veräußerung der persönlichen Sicht
Heute werden im Internet Blogs mit dem Ziel verfasst, dass möglichst viele Menschen die eigene persönlich gefärbte Sicht auf Welt mitverfolgen. Das Sichmitteilen in der digitalen öffentlichkeit ist das Ziel. Die Beiträge werden automatisch digital archiviert. Dass scheinbar nebenbei aufgrund der Veräußerung der persönlichen Meinung ein Profil des Bloggers entsteht, scheint nebensächlich.

Analoge öffentlichkeit
Das graphische Log ist ein öffentlich geführtes Arbeitstagebuch, es bedient sich scheinbar der Mittel des Weblogs. Die neuesten Beiträge stehen immer oben und der Untergrund erinnert an eine geöffnete Seite am Bildschirm. Auch der Inhalt gibt eine persönliche Sicht auf eine ausgewählte Thematik wider. Die Inhalte werden nicht so intim gehalten wie das frühe Tagebuch, doch sind die Adressaten alles andere als digital. Ist der digitale Raum scheinbar unendlich und der Adressatenkreis nahezu unbegrenzt, ist die Leserschaft des graphischen Logs topographisch begrenzt. Die Menschen im unmittelbaren Umkreis des Logs sind die ausgewählten Leser. Werden dem graphischen Log ebenso tagtäglich über einen bestimmten Zeitraum immer wieder Notizen hinzugefügt, erscheinen diese jedoch mit realen Pigmentfarben auf einer realen Wandfläche. Die Beiträge sind nur zu lesen, indem man sich im realen Ort-Zeit-Gefüge zu dem Log hinbegibt. Und das ist aus lebenspraktischen Gründen nur einer im Vergleich zum WorldWideWeb kleinen Personengruppe möglich. Das graphische Log braucht somit eine Schnittmenge mit den ihn direkt umgebenden Menschen, um relevant zu sein.

Sehenswertes

Cuxhavener Kunstverein

12. April -17.Mai 2013

Kennen sie das? Sobald die ersten Sonnenstrahlen im Frühling alles in freundliches helles Licht tauchen, meint man den Blütenduft zu riechen und die Nase schnuppert sich weg vom fauligem hin zum frischen Grün, dazu: Vogelgezwitscher am Morgen. Unser Hör- und unser Geruchssinn scheinen zu erwachen. Wir brauchen sie für die Arbeit „Sehenswertes“ von Silvia Wienefoet.
Seit Neuestem wehen fünf schwarzblaugelbe Flaggen über Cuxhaven.
Flaggen signalisieren schon von weitem Hoheitsrechte, die Zugehörigkeit oder die Vertretung von Gemeinschaften oder sie sind Warnsignale. Warnt die Elbe 1 mit der neuen Fahne wie ehedem als schwimmender Leuchtturm vor Gefahren? Vor welchen? Als Außenstehender fragt man sich: Was wird hier markiert? Was ist an den fünf Orten, an denen die Flaggen in Cuxhaven stehen, so bedeutsam?
Wir sehen auf dem flatternden Stoff im Wind eine abstrakte zweidimensionale Anordnung von Punkten. Wir können beginnen diese Flagge mit den anderen zu vergleichen: Hier auf der Flagge auf dem Schiff stehen viel mehr Punkte darauf als auf der, dort an der Bucht“. Warum?
Bald ist klar, es geht nicht nur um das entstandene Muster, weder um Morsezeichen, noch wurde etwas gezählt: es handelt sich um die Brailleschrift. Silvia Wienefoet nutzt die Flaggen also im ganz ursprünglichen Sinne: Sie dienen zur visuellen Uebertragung von Informationen über eine grössere Distanz. „Gut, das verstehen wir, das können also Blinde lesen!“ Können sie es? Weit gefehlt! Nein, auch sie können den Code, weil nur sichtbar, aber nicht fühlbar, nicht entschlüsseln. Sowohl der Projekttitel „Sehenswertes“ als auch die Flaggen führen den ‚Verweis auf Etwas‘, das „Zeichen für“ ad absurdum.
Wir suchen also weiter: Auf dem roten Turm, im Schaukasten oder auf der Sitzbank: In unmittelbarer Nähe des Flaggenstandortes befindet sich ein Text – das Rätsel scheint sich dort zu lüften! Doch der vermeintliche Infotext stellt sich als Collage von Buchstabensätzen und Brailleschriftpunkten heraus. Wieder bleibt uns das schnelle Verständnis des ganzen Textes verwehrt. Aber wir erkennen etwa in dem Satz „Die Welle der Maschine ist riesig, ich habe sie anfassen dürfen“ – jemand war hier, hat über sich und diesen Ort gesprochen und Teile davon bekommen wir hier offenbart.
Das Rätsel um die Codes lüftet sich erst im Kunstverein: Silvia Wienefoet hatte Mitspieler: Petra, Johannes, Magnus, Lara und Christian waren die unsichtbaren Protagonisten von Sehenswertes, deren Namen mit Altersangabe nun in der Stadt auf den Fahnen – für niemanden entschlüsselbar, der es nicht weiss – als Punktebild prangen und nachts durch die nachtleuchtende Folienschrift leuchten.
Sie haben ihre Erlebnisse mit und Empfindungen zu den Orten formuliert, Empfindungen, die wir mit unseren Erfahrungen an den Orten vergleichen können.
Warum könnte das interessant sein? Unsere Empfindungen sind subjektiv. Jeder Mensch hat seine eigene Kombination von Sinnesrezeptoren und nimmt die Welt anders wahr. Ein Geräusch kann von einem Menschen als Belästigung wahrgenommen werden, während es ein anderer als nicht störend empfindet. Geschmäcker sind verschieden und Gerüche werden anders wahrgenommen, weil jeder eine andere Kombination von Genen hat, die in der Nase für das Riechen zuständig sind. Man weiss nicht, wie andere wahrnehmen und so gehen wir auch in der Bewertung von Welt immer von unserer persönlichen Wahrnehmung aus, sie ist unsere Wahrheit. Wahrheit setzt umgekehrt immer Wahrnehmung voraus. Es gibt sie nicht ohne den wahrnehmenden Menschen, ohne menschliche Tätigkeit, ohne Anstrengung.
Um den Wahrnehmungen der Protagonisten in Gänze zu folgen legen wir Wege zurück, Wege zwischen den Flaggen, ein Hin und Her zwischen den Orten: Kunstverein, Bucht, Kunstverein, Watt. Wir werden durch ihre aufnotierten Zitate neugierig gemacht auf eigentlich Altbekanntes, an Orten, wo wir schon lang nichts mehr Neues zu sehen glaubten. Hier wie dort, in einer spielerischen Bewegung sind wir auf der Spur, werden von Silvia Wienefoet zu einem Rätselgang verführt, wo sich die Textbausteine sukzessive ergänzen, wo wir aber immer ein Stück unbefriedigt bleiben. Nur um das Zusammenfügen der Texte zu fremden Geschichten kann es also nicht gehen. Der Text vor Ort ist nur Anlass, denn der Betrachter ist mit dem für ihn nicht chiffrierbaren Hinweis mit seiner Wahrnehmung des Ortes allein, so allein, wie man immer mit seiner Wahrnehmung ist, ohne es sich bewusst zu sein. Silvia verführt uns, unsere Welt des Sehens, in der wir so sehr leben, auszubauen, Gerüche, die einen grossen Erinnerungsspeicher darstellen, z.B. bewusst zu schnuppern. Wir können nun der Aufforderung der Arbeit folgen und an Orten des Sehens nun riechen oder an Orten des Hörens nun tasten oder stolpern. Man kann sich aber auch weiter fragen: Was wäre mein Ort der Wahl gewesen in Cuxhaven? Was wäre mir dort wichtig zu sagen? Wahrnehmung ist wesentlich ein Prozess der Identitätsbildung im Erkennen von Welt. Ich identifiziere das, was ich wahrnehme mit dem, was ich kenne und für wahr halte und es entsteht mein ganz persönlicher Film vom Leben. So können wir an den von Silvia errichteten Stationen innehalten und das „Sehenswerte“ daraufhin prüfen, ob es sich von der Floskel im Reiseprospekt für jeden einzelnen von uns in etwas aktuell für uns Wertes, nennen wir es ‚Erkenntnis‘ verwandelt.
Silvia ist für ihre Arbeit tief in die Erlebniswelt von Menschen, die aufgrund einer Sehschwäche andere Sinne verstärkt nutzen, eingetreten, hat Kontakt zu Blindenvereinigungen, und Privatpersonen aufgenommen. Sie hat viele bewegende Geschichten gehört und: sie nicht veröffentlicht! Ihre Haltung, die in der Kunst deutlich wird, bedient in einer Zeit wo Intimstes über die Fernsehkanäle in alle Welt geblasen wird, nicht unsere Sensationslust sie bedient auch nicht unser Mitleid. Denn es geht um Kunst, nicht um Verständnis oder Seelsorge oder Einzelschicksale, sondern um Bilder: Bilder aus Sprache für die Stadt Cuxhaven, Erinnerungsbilder, die im Kopf entstehen, wenn wir die Augen schliessen oder eine kurze Notiz lesen.
Silvia Wienefoet selbst vergleicht ihre Einschreibungen in den öffentlichen Raum gerne mit Twitter, eine digitale Echtzeit-Anwendung zur Verbreitung von telegrammartigen Kurznachrichten im Internet. Auch bei Sehenswertes begegnen wir Zeichen im öffentlichen Raum, die nicht für die Ewigkeit gemacht sind, die sich an alle richten, die vorbeispazieren.
Ihr Werkzeug und ihr Material ist die Sprache, ihre Methode war die Begegnung und Kommunikation.
Ihre Fähigkeit der sympathischen Anteilnehmens, des empathischen Zuhörens und der schnellen frischen Gedankensprünge hat sie bei Sehenswertes mit eingebracht.
Sie konnte eine Vertrauensbasis herstellen, die eine Annäherung an das Fremde, und seien es nur differente Wahrnehmungsintensitäten, braucht.
Aus persönlichen Geschichten hat sie mit einem Schuss Absurdität und Humor jetzt eine Stadt greifende Installation mit zarten und bewegten Markierungen in öffentlichen Raum geschaffen, in der sich die Leitidee des Jahreskonzeptes „34 Knoten“: „Der Kunstverein geht in die Stadt!“ realisiert.

Christine Biehler
Eröffnungsrede am 12.4.2013,
Silvia Wienefoet „Sehenswertes“,
Cuxhavener Kunstverein